Die größte der Verschwörungstheorien
Was ist Framing?
Framing bedeutet, für Ereignisse und Themen eine Deutung vorzugeben – anhand konstruierter Narrative. Es ist eine Manipulationstechnik, die Fakten selektiert, strukturiert und verzerrt und den Angesprochenen zu einer vorbestimmten Schlussfolgerung führen soll.
Framing von Spaziergängen
Ein extrem verschwurbeltes Beispiel für Framing ist ein kurzer Artikel der Potsdamer Neuesten Nachrichten:
Erst führt der Titel die Begriffe „Demonstrationen“, „Drohungen“, „Tötungsaufrufe“ und „Corona-Leugner“ zu einer Bedeutungseinheit zusammen, dann alarmiert er, dass die Lage sich auch noch radikalisiere. Abgebildet wird eine Demonstration mit Plakaten, auf denen Drosten, Lauterbach und anderen in Gefängniskleidung und einem Stempel „schuldig“ abgebildet sind.
Das Framing durch Titel und Foto unterstellt: Die Corona-Demonstranten bedrohen Verantwortungsträger und rufen zur Tötung auf.
Was sagt der Text des Artikels? Kein Wort über Demonstranten. Es geht ausschließlich um Internetforen und radikale Gruppen auf Messenger-Diensten. Aber offenbar ist es vom verantwortlichen Redakteur erwünscht, dass der Leser die Spaziergänger mit radikalen und bis zum äußersten gewaltbereiten Internetaktivisten identifiziert.
Was sagt das Bild für sich alleine aus? Demonstranten empfinden, dass sich Drosten, Söder, Lauterbach und andere in einem Maß schuldig gemacht haben, dass sie verurteilt und ins Gefängnis gehören. Hier wird nicht zur Selbstjustiz, gar Tötung, aufgerufen, sondern das vermutete Ende einer gerichtlichen Untersuchung und Verurteilung imaginiert, eines rechtsstaatlichen Prozesses.
Aber auf Differenzierung und Nachdenken kommt es beim Corona-Framing nicht an, im Gegenteil. Über die meisten Medien hinweg wird eine Gedankensoße erzeugt, in der auf die Zielgruppe alles projiziert wird, was man in der Gesellschaft als verabscheuungswürdig betrachten kann (mit verlinkten Beispielen): Spaziergänger = Ungeimpfter = Bildungsfern = Impfgegner = Unsolidarisch = Querdenker = Corona-Leugner = Wissenschaftsleugner = Verschwörungstheoretiker = Radikal = Rechtsextrem = Bewaffnet und Gewaltbereit = Gefährlich = Staatsfeind = Tötungsaufrufer.
Warum geschieht das?
Was bringt eine breite Medienfront dazu, diese Urteile zu fällen?
Ja, es gibt Menschen, die wirr im Kopf sind, es gibt Randalierer und es gibt Rechtsextreme. Und jede Demonstration kann von Menschen gekapert werden, die sich austoben und Schaden stiften wollen. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen dominieren die Bilder von Rangeleien. Das sind Einzelfälle, und jedem Menschen, der die Welt nicht nur über seinen Fernseh- und YouTube-Kanal wahrnimmt, sollte das klar sein.
Das Mediengeschäft funktioniert leider maßgeblich über Klicks und Einschaltquoten, und Gewaltdarstellung und Polarisierung bringt höheren Umsatz als friedliche Spaziergänger. Wenn Sie ein repräsentativeres Bild von den Corona-Spaziergängen bekommen wollen, installieren Sie sich Telegram, den verunglimpften Nachrichtendienst, suchen Sie die Gruppe „Demo-Termine & Kontakte, ...“ und schauen sich jeden Montagabend Videos von Hunderten Corona-Spaziergängen aus ganz Deutschland an, von 50 Teilnehmern in Gefell bis Tausenden in Hamburg. Auf den ersten Blick ist es ganz nett, sich die Spaziergänger anzuschauen, wie hier in Mannheim, doch nach ein paar Minuten wird es langweilig: In den allermeisten Fällen spazieren die Menschen ganz friedlich, begegnen Freunden und Bekannten und unterhalten sich. Sie tragen Rosenkränze, Kerzen oder Laternen statt Schlagringen und Messern. Damit lässt sich keine Auflage steigern, keine Klicks generieren, kein Geld machen.
Und die Politiker?
Wissen das die Politiker? Peter Hahne bestätigt in diesem Video: „Die Herrschenden wissen, wer demonstriert: Das sind doch keine Nazis oder Corona-Leugner, das sind Eltern, Ärzte, Lehrer, Professoren, Studenten, unglaublich viele junge Leute. Und sie kennen auch die Zahlen! Allein in Nordrhein-Westfalen gibt es 500 große Demonstrationen"
Auch Verfassungsschützer bestätigen Alexander Wallasch auf Anfrage: „Kein relevanter Rechtsextremismus auf Spaziergängen.“ Was tun unsere Politiker mit diesem Wissen? Sie sind nicht auf Klicks und Einschaltquoten angewiesen und sollten Dialog und Ausgleich suchen. Doch stattdessen rufen sie zu Gegendemonstrationen auf. Besonders die SPD, aber auch Linke und Grüne engagieren sich, z.B. in Leipzig, und betreiben das übliche Framing:
Und der Präsident?
Zum Glück gibt es eine politische Institution, die über dem politischen Alltagsgeschäft steht und es immer wieder schafft, die Deutschen mit Großmut, Weitblick, Erinnerung an gemeinsame Werte und dem Blick aufs Ganze zu vereinen: Der Bundespräsident.
Wie schafft er es, die Bevölkerung wieder zu integrieren? m 19.1.2022 titelte ntv: „Das beleidigt uns alle!“ und schreibt:
Bundespräsident Steinmeier ruft angesichts eines sich radikalisierenden Teils der Corona-Proteste zum lauten Widerspruch auf. Man dürfe nicht schweigen, wenn "Extremisten die Axt ans demokratische Urvertrauen legen".
Holla, er versucht nicht einmal den Ausgleich, sondern ruft zur Konfrontation auf? Zum aktiven und lauten Vorgehen gegen die Corona-Proteste? Das klingt mir wenig präsidial. Doch Steinmeier ist noch zu einer Steigerung fähig: Am 24. Januar beginnt er auf seiner Veranstaltung „Hass und Gewalt in Zeiten der Pandemie“ die Eröffnungsrede mit:
„Der Spaziergang hat seine Unschuld verloren. Das gilt zumindest für die letzten Monate. Hygiene-Regeln und Corona-Auflagen werden bewusst umgangen, Arztpraxen und Impfbusse auf Marktplätzen attackiert, die Wohnhäuser von Politikern – insbesondere Kommunalpolitikern – werden belagert, Polizeikräfte – wie wir es leider sehen mussten – gezielt verletzt. Fackelträger und Morddrohungen machen Schlagzeilen.“
Sorry Herr Steinmeier, Framing solcher Art ist – gelinde gesagt – eines Präsidenten unwürdig. Kein Wunder, dass Phönix das Videos entschärft und diesen unsäglichen Frame weggeschnitten hat, wie hier zu sehen. Es geht weiter mit:
„Hass und Gewalt gegen Menschen, die in unserem Land Verantwortung tragen, haben nicht erst in dieser Pandemie ein erschreckendes Ausmaß erreicht.
Natürlich erinnern wir uns in diesen Tagen wieder mit Sorge und Entsetzen an die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Wir erinnern uns an lebensgefährliche Messerattacken auf die Oberbürgermeisterin von Köln, Henriette Reker, und auch auf den damaligen Bürgermeister von Altena in Nordrhein-Westfalen, Andreas Hollstein. Wir wissen und sollten wissen: Wir dürfen nicht verharmlosen. Die Gefahr ist real, und sie ist konkret. […]
Und deswegen sage ich nochmal: Wir dürfen nicht verharmlosen. Es war am 18. September vergangenen Jahres, als ein Maskenverweigerer in Idar-Oberstein einen zwanzigjährigen Tankstellenangestellten mit einem gezielten Kopfschuss ermordete.“
Ich bin entsetzt und ziehe es vor, das nicht weiter zu kommentieren.
Was macht das mit der Bevölkerung?
Richtig bewusst, welche Bilder und Ängste damit in der Bevölkerung erzeugt werden, wurde mir erst am vergangenen Montag, als ich an einem Montagsspaziergang in einer Kleinstadt teilnahm. Ein paar Hundert unmaskierte Leute spazierten, in Plaudereien vertieft, ohne Parolen, Plakate, Trillerpfeifen oder Ausrufe. Eine ältere Dame kam aus einem Haus am Wegesrand, fand sich überrascht zwischen uns, fragte „in welche Demo bin ich denn hier geraten?“, wirkte sichtlich verängstigt und suchte schnell das Weite.
Ich habe nun an drei Spaziergängen teilgenommen, habe mit so einigen Menschen gesprochen und habe keine einzige rechtsextreme Aussage gehört. Ich habe mich an den Rand gestellt und die vorbei spazierenden Leute angeschaut: Kein einziges politisches Zeichen oder Gesinnungssymbol, nicht einmal Plakate oder Transparente. Die Nazis, die den Kern der Spaziergänge bilden sollen, scheinen unsichtbar, inkognito oder stumm.
Und dann gab es die Gegendemonstranten mit SPD-Fahnen und Plakaten, gerne auch in Frakturschrift, und bei den meisten fragte ich mich, was die Aussagen bitteschön mit mir zu tun haben sollen. Ich hörte Buhrufe und Beschimpfungen und machte mir Sorgen, ob sich da mit der Zeit ein Mob zusammenbraut, der mir gefährlich würde.
Zumindest einige von ihnen suchten das Gespräch. Das nutzte ich, um mich zu informieren, wer denn da so steht und was er denkt. Staunend bekam ich ihre Ansicht zu hören, die Spaziergänge orientierten sich am Vorbild der Pegida-Bewegung und spazieren gehen sei daher per se rechte Propaganda.
Auch seien diese Spaziergänge von Rechtsextremen ausgerufen worden, es gäbe in der Region rechtsextreme Telegram-Gruppen mit Hunderten von Gesinnungsanhängern, die zum Spazierengehen aufriefen. Mir werden Namen von Gruppierungen genannt, die ich noch nie gehört hatte.
In zwei verschiedenen Gesprächen mit Gegendemonstranten zeigt sich, dass sie fest davon überzeugt sind, es mit einer Demonstration von Rechtsextremen zu tun haben. Es gibt also doch Corona-Verschwörungstheoretiker, und zwar unter den Gegendemonstranten: Es ginge nicht um Proteste gegen die Impfpflicht, sondern um die rechtsnationale Machtergreifung. Das würde natürlich auch die Feindseligkeit der Gegendemonstranten und die Angst der alten Dame erklären.
Was sind die Spaziergänge?
Ende 2021 hat man sich angesichts wachsenden Unmuts über die Corona-Maßnahmen an die Montagsspaziergänge erinnert, die 1989 zur Aufgabe des alten Systems geführt hatten, und sie wiederbelebt. Die Planung der Impfpflicht führte dazu, dass ein Lauffeuer von Protesten durch Deutschland begann und inzwischen deutschlandweit jeden Woche friedliche Protestspaziergänge stattfinden, an denen sich Menschen aller Couleur beteiligen. Inzwischen 2.000 Spaziergänge pro Woche mit einer wöchentlich steigenden Gesamtteilnehmerzahl, die in der kommenden Woche die Millionengrenze überschreiten könnte.
Zur Ausruf dieser Spaziergänge brauchte es kein rechtsnationales Organisationskomitee. Es genügt die deutschlandweite Verbreitung der Idee, sich jeden Montag 18:00 Uhr vor dem Rathaus seiner Gemeinde zu treffen und spazieren zu gehen. Eine einfache Regel, die auf jeden Ort in Deutschland anwendbar ist. Trifft sie auf Hunderttausende Menschen, die Ängste, Sorgen und Enttäuschung empfinden und sich von ihren Abgeordnete nicht repräsentiert fühlen, entsteht eine Demonstrationswelle. Das ist die ganze Magie hinter dem vielfältigen proklamierten „Rechtsruck“.
Hauptthema ist die Ablehnung der Impfpflicht, in Gesprächen der Spaziergänger geht es auch um Gesundheit, Angst, eine tiefe Erschöpfung nach 18 Monaten Corona-Maßnahmen, Grundrechte, körperliche Selbstbestimmung, Impfstoffsicherheit, Impfung von Kindern und Enttäuschung über Politiker, denen wir erst kürzlich unser Vertrauen ausgesprochen hatten.
Den allermeisten geht es hier weder um Rechtsextremismus noch um Umsturz, es geht nicht einmal um ein spezifisch deutsches Thema. Weltweit gehen die Menschen zu Millionen auf die Straße um gegen Corona-Maßnahmen zu demonstrieren, z.B. am 22.1.2022: die „Vaccinpass“-Demonstration in Stockholm mit 10.000 Teilnehmern und die Anti-Impfpflicht-Demo in Wien mit 42.000 Teilnehmern. Am 23.1.2022 „Defeat the Mandates“ in Washington D.C. mit 35.000 Teilnehmern, und landesweite „Freedom Marches“ in Australien mit vielen Tausend Teilnehmern.
Weltweit gehen Regierungen dazu über, gemäßigter auf die neue Situation mit Omikron zu reagieren, viele Einschränkungen aufzuheben und die grünen Impfpässe wieder abzuschaffen, zum Beispiel Großbritannien, Irland, Spanien und Israel. Alles rechte Demonstranten und Regierungen?
Und die Gegendemonstranten?
Jeder Mensch, der gewaltlos auf die Straße geht, hat ein Anliegen, an das er glaubt und für das er bereit ist einzustehen. Nicht nur bequem vom Sofa aus mit einem Mausklick auf einer Gesinnungs-Webseite, sondern stundenlang in der abendlichen deutschen Winterkälte. Das ist Respekt wert, egal auf welcher Seite man steht.
Wer ein Gespräch anbietet, mit dem sollte auch gesprochen werden. Angesichts der gegenwärtigen Hetze ist das schon eine edle Gesinnung und trägt dazu bei, die aufgebauten Feindbilder zu hinterfragen und das Framing zu durchbrechen. In ein paar Monaten wollen wir uns doch alle noch in die Augen sehen können, oder?
Egal ob Sie spazieren gehen oder zu den Gegendemonstranten gehören, sprechen Sie mit „den Anderen“, damit dieses Märchen vom rechtsnationalen Aufbegehren endlich entlarvt wird und alte Damen abends wieder ohne Angst auf die Straße gehen können!
Bleiben Sie gesund,
Leonard Frey
(Pseudonym)