Wie in meinem letzten Artikel erzählt, habe ich mich letzten Montag mit einigen Gegendemonstranten der Montagsspaziergänge unterhalten. Über viele Gedanken zum Thema haben wir uns ausgetauscht. Es war ein von Verständigungswunsch und Erklärungsdrang dominiertes Gespräch. Viel Zeit ging darauf verloren, zu prüfen, ob ich eine rechtsextreme Gesinnung hätte (was übrigens nicht der Fall ist und was ich bei keinem meiner Mitspaziergänger feststellen konnte).
Eine Meinung, die ich als absolute Grundbedingung ethischen Handels ansehe, stieß bei den Gegendemonstranten auf komplettes Unverständnis, und das löste bei mir Entsetzen aus: Sie empfanden, es sei legitim, bewusst z.B. 1.000 Menschen schwere Schäden bis hin zum Tod zuzufügen (Impfschäden), um bei 5.000 Menschen schwere Schäden zu verhindern (schwere Corona-Verläufe).
Wie kann das sein? Vielleicht sehen auch Sie das anders. Um diesen Widerspruch zu verstehen, beschäftigte mich mit dem Thema und stieß auf ein Gedankenexperiment, das die Problematik abstrahiert und zu einem besseren Verständnis führt:
Weichenstellerdilemma
Das Weichenstellerdilemma, im Englischen Trolley Problem genannt, stellt sich wie folgt dar [Wikipedia]:
Eine Straßenbahn ist außer Kontrolle geraten und droht, fünf Personen zu überrollen. Durch Umstellen einer Weiche kann die Straßenbahn auf ein anderes Gleis umgeleitet werden. Unglücklicherweise befindet sich dort eine weitere Person. Darf (durch Umlegen der Weiche) der Tod einer Person in Kauf genommen werden, um das Leben von fünf Personen zu retten?
Intuitiv halten die meisten Menschen die Umstellung der Weiche für richtig, was für Anhänger des Intuitionismus ein Anzeichen dafür ist, dass diese Entscheidung tatsächlich richtig ist.
Doch ganz so einfach ist es nicht, wie Daniel Kahneman in seinem Buch Schnelles Denken, langsames Denken seine Forschungsergebnisses zusammenfasst, die ihm einen Nobelpreis einbrachten: Das Gehirn arbeitet mit zwei unterschiedlichen Denksystemen:
System 1 liefert schnelle, intuitiv unterstützte Schlussfolgerungen. Es arbeitet beim Denken immer mit, ist schnell und funktioniert im Großen und Ganzen gut. Es hat aber auch seine Schwächen, Themenstellungen, die es systematisch falsch interpretiert. Daher braucht der Mensch, um in komplizierteren Fällen die richtigen Schlussfolgerungen treffen zu können ein System 2, das analytisch und zu weitgehender Abstraktion und Objektivität fähig ist, aber viel langsamer arbeitet und bewusste Aktivierung und „angestrengtes“ Denken erfordert, daher bei Alltagsthemen gerne ausgelassen wird.
Die Entscheidung, die Sie selbst beim Lesen des Weichenstellerdilemmas getroffen haben, kommt mit hoher Wahrscheinlichkeit aus System 1. Liegen Sie damit vielleicht einem Trugschluss auf? Lassen Sie uns zur Prüfung unser System 2 befragen, indem wir das Problem abwandeln und analysieren, wie System 1 darauf reagiert: Mathematisch lässt sich das Experiment reduzieren auf die Rettung von fünf Menschenleben zum Preis eines anderen Menschenlebens.
Der Wert eines Menschenleben
Wie würden Sie entscheiden, wenn sie die Weichen stellen müssten, dass der Zug entweder Ihre Mutter oder fünf Fremde überrollt? Oder sie müssen die Wahl treffen zwischen 5 zum Tode verurteilten Serienmördern und einem Richter? Nun fließt eine andere Größe in die Entscheidung ein: Der subjektive Wert, den ein bestimmtes Menschenleben (bewusst oder unbewusst) im Auge des Entscheiders hat.
Eine Betrachtungsweise, die im Dritten Reich salonfähig war und in der Weltgeschichte vielfach als Legitimation für Massenmorde herangezogen wurde. Diese Betrachtungsweise wollte Deutschland nach den Erfahrungen aus dem 3. Reich hinter sich lassen. Und ein „Othering“, wie ich es kürzlich in diesem Artikel beschrieb, ist ein erster Schritt auf dem Weg zur Abwertung einzelner Gesellschaftsgruppen.
Organentnahme-Fall
Eine extreme Abwandlung des Problem fand Judith Jarvis Thomson:
Organentnahme-Fall (engl. Transplant oder Organ Harvest): Ein exzellenter Chirurg hat fünf Patienten, die alle unterschiedlicher Organe bedürfen, um am Leben zu bleiben. Unglücklicherweise stehen dafür keine Spenderorgane zur Verfügung. Da meldet sich ein gesunder junger Durchreisender zu einer Routineuntersuchung. Der Arzt stellt fest, dass dessen Organe zu seinen fünf todkranken Patienten passen. Nehmen wir an, dass niemand den Arzt verdächtigen würde, wenn der Reisende verschwände. Halten Sie es für richtig, dass der Arzt den Reisenden ausschlachtet, um dessen Organe an die fünf todkranken Patienten zu verteilen und so ihr Leben zu retten?
Wie würden Sie sich entscheiden? Falls Ihre Entscheidung anders lautet als im ersten Experiment: Warum? Ein Mensch stirbt, fünf Menschenleben werden gerettet.
Ethik
Was könnte die ethische Grundlage zu unterschiedlichen Urteilen in den beiden Fällen sein?
Vorausgesetzt, allein das Ergebnis rechtfertigt die Wahl der Maßnahmen, werden Sie sich in beiden Fällen für den Tod einer Person entscheiden, um das Leben von fünf Personen zu retten. Der Konsequentialismus vertritt diesen Standpunkt und wird in seiner Reinform gerne auf den Punkt gebracht „Der Zweck heiligt die Mittel“. Ein solcher Wertungsansatz beinhaltet die Ansicht, dass es keine Handlungsweise gibt, die von sich aus “richtig” oder “falsch” ist. Nur das Ziel zählt. Mao und Stalin kann man konsequentialistische Denk- und Handlungsweisen unterstellen.
Was wäre ein anderer Ansatz? Die Annahme, dass es Handlungsweisen gibt, die unabhängig von den Umständen falsch sind. Zum Beispiel, einen Menschen zu töten. Die Deontologische Ethik bezeichnet eine Klasse von ethischen Theorien, die den moralischen Status einer Handlung eben nicht in Form ihrer Konsequenzen messen. Bestimmte Handlungen können daher als intrinsisch gut oder schlecht bezeichnet werden. Entscheidend ist dabei, ob die Handlung einer verpflichtenden Regel gemäß ist und ob sie aufgrund dieser Verpflichtung begangen wird.
Impfpflichtdebatte
Die Impfungen haben einen Schutzffekt gegen Covid-19, aber jeder Impfvorgang birgt ein gewisses gesundheitliches Risiko. Die Auswertung hunderttausendender Verdachtsmeldungen zu Impfnebenwirkungen liefert Verdachtsmomente, dass die Impfungen allein in Deutschland für mehrere zehntausend Menschen schwere gesundheitliche Folgen bis hin zum Tod hatten. Es gibt viele (nicht repräsentative) Einzelbeobachtungen, die den gleichen Verdacht nahelegen. Unter normalen Umständen würde das zur sofortigen Einstellung der Impfmaßnahmen führen und zu intensiven und sorgfältigen Untersuchen, um die Impfstoffsicherheit sicherzustellen. Doch nicht bei Corona.
Die Impfpflichtbefürworter nutzen im Wesentlichen drei Argumentationsweisen:
Utilitarismus: Es gibt schwere Nebenwirkungen, aber der Nutzen der Impfungen über die Gesamtgesellschaft rechtfertigt es, auch Impfunwilligen gegen ihren Willen Schaden zu verursachen. Es gibt keine roten Linien.
Verheimlichung: Es gibt keine schweren Nebenwirkungen: „Nur ein kleiner Piks“.
Scheinargumente: Aussagen zu Alternativlosigkeit, Fremdschutz, Überlastung des Gesundheitssystems und Epidemiebeendung, die sich spätestens seit Omikron allesamt mit statistischen Untersuchungen und auf Basis wissenschaftlicher Studien widerlegen lassen. Ich plane noch einen Artikel mit Belegen dazu.
Zusätzlich wird Othering betrieben: Das Framing der Maßnahmenkritiker als rechtsextrem, gewalttätig und kriminell, wie ich es in diesem Artikel beschrieb, und Herabsetzung des Werts dieser Menschen durch Vergleiche mit Blinddärmen und Ratten durch prominente deutsche Entertainer.
Es werden also alle Register gezogen, um die intuitive Entscheidung durch System 1 zugunsten der Impfung zu triggern.
Welche Entscheidung ist die richtige?
Es gibt keine ethisch “richtige” oder “falsche” Antwort auf die Frage, ob ein Mensch gegen sein Einverständnis geschädigt oder gar getötet werden darf, um andere Menschen vor Schaden zu bewahren. Es ist eine Frage des Wertesystems und der Ethik des Entscheiders (utilitaristisch oder theodontisch) und es liegt in der Natur der Sache, dass jede der möglichen Entscheidungen bei den Betroffen auf Widerspruch stößt.
Ich empfinde einen rein utilitaristischen Ansatz als rückwärtsgewand und menschenverachtend. Angesichts der deutschen Geschichte und den moralischen Verpflichtungen, die sich für mich daraus ergeben, hätte ich es nie für möglich gehalten, dass eines Tages eine Mehrheit demokratisch legitimierter Politiker in Führungspositionen und ein großer Teil der Bevölkerung sich bewusst für die schwere Schädigung und Tötung eine Minderheit zum Vorteil einer Mehrheit aussprechem könnten. Der Gedanke schüttelt und entsetzt mich.
Nutzen-Risiko-Faktor
Die europäischen und US-amerikanischen Zulassungsbehörden betrachten bei der Entscheidung für die Notfallzulassung von Medikamenten in Jahresintervallen ihr Nutzen-Risiko-Verhältnis und verlängern die Zulassung nur, wenn dieses Verhältnis angemessen erscheint. Mehr über die Betrachtungen finden Sie in meinem Artikel über die durch die EMA bestätigten Risiken und Nebenwirkungen des Covid-19-Impfstoff von Pfizer und Biontech. Aber daraus resultiert nur ein Angebot, das abgelehnt werden kann, keine Pflicht.
Risiko ≥ Nutzen?
Ethisch lässt sich eine Impfpflicht ausschließlich utilitaristisch rechtfertigen, wenn nur das Ziel zählt und es keine “intrinsisch schlechten” Taten gibt. Doch wie die Gesundheitsbehörden muss sich auch ein utilitaristischer Politiker gegen eine Impfpflicht entscheiden, wenn der Nutzen den Schaden nicht mehr überwiegt.
Omikron verursacht wesentlich mildere Verläufe und deutlich weniger Todesfälle als die vorherigen Varianten, der Nutzen (in Form von abgewendetem Schaden) ist also deutlich geringer. Für junge Menschen legen statistische Auswertungen nahe, dass ihre Gefährdung durch eine Impfung ähnlich groß oder gar größer ist als die Wahrscheinlichkeit einer Omikron-Infektion mit schwerem Verlauf.
Hypothetische Gefahr
Wer dem entgegenhält, dass wieder eine gefährlichere Variante mit der Virulenz von Omikron und der Gefährlichkeit von Delta entstehen könnte, stellt dem realen Impfschaden einen rein hypothetischen Schutznutzen gegenüber und argumentiert nicht ethisch, sondern rhetorisch.
Die Medizingeschichte zeigt, dass dieser Fall nicht wahrscheinlich ist, und die Erfahrungen mit den vorhandenen Impfstoffen legen nahe, dass die bis dahin „verpiksten“ Impfstoffe bestenfalls einen Teilschutz gegen eine neue Variante bieten würden. Wir sehen also auf der einen Nutzenseite ein imaginäres Risiko und einen hypothetischen Schutzfaktor. Auf der Schadenseite sehen wir reale Opfer einer Impfpflicht. Eine Betrachtung, die ich persönlich nicht einmal utilitaristisch rechtfertigen kann.
Bleiben Sie gesund,
Leonard Frey
(Pseudonym)