Immer noch sieht die Corona-Lage dramatisch aus, und es ist Konsens, dass eine möglichst hohe Impfquote der schnellste und beste Ausweg ist. Um diesen Gedanken zu bestätigen, habe ich eine Recherche durchgeführt: Andere Länder sind näher am Ziel einer vollständigen Durchimpfung der Bevölkerung oder weiter davon entfernt. Ein Vergleich von Impfquote und Covid-Gesundheitsdaten sollte uns eine Vorschau geben, wie Deutschland mit einer höheren oder niedrigeren Impfquote dastehen könnte.
Dies ist keine akademische Studie, könnte es auch nicht sein, da Hauptschulbildung, Englischkenntnisse und die Fähigkeit zur Benutzung eines Browsers und einer Tabellenkalkulation ausreichen, diese Untersuchung durchzuführen und nachzuvollziehen. Wissenschaftlicher Sachverstand ist hilfreich, aber nicht notwendig.
Bis auf die Länderauswahl enthalten die Darstellungen keine subjektiven Faktoren oder Interpretationen. Ich versuche, mich auf die Aussagekraft der Zahlen zu beschränken. Lediglich im Fazit erlaube ich mir einige vorsichtige Schlussfolgerungen und Fragen. Mir geht es hier nicht um Meinungsmache, sondern um einen Vergleich zwischen Erwartungen an und Messung von Impferfolgen.
Die Daten der Untersuchung stammen vom 23.12.2021 und umfassen 35 Länder. Mehr zu Datenquelle und Länderauswahl im Abschnitt „Datenquelle“.
Erwartung
Lassen Sie uns vergleichen, wie die Covid-Messzahlen (Inzidenzen, Todesfälle und Reproduktionswerte) im Vergleich zu den Impfquoten aussehen. Dazu erstellen wir ein Koordinatensystem, in dem die Impfquote nach rechts und die Messzahl nach oben aufgetragen wird. Setzen wir voraus, dass die Impfquote der wichtigste Faktor für die Covidverbreitung ist, und bei einer Impfquote von 70-80% die erwartete Herdenimmunität die Pandemie beendet, erwarten wir ein Ergebnis der folgenden Art:
Bei Impfquoten deutlich unter 70% sollte es in allen Ländern ähnlich schlecht aussehen. Spätestens ab 70% Impfquote sollte es einen drastischen Rückgang an Schadensfällen geben, bis bei vollständigem Impfschutz der Gesamtbevölkerung keine Schäden mehr auftreten. Sehr grob betrachtet, können wir diese Annahme bestätigt sehen, wenn die Messkurve „von links oben nach rechts unten“ läuft.
Ergebnisse
Lassen sie uns diese Annahme nun für verschiedene Covid-Messzahlen prüfen:
Fallzahlen
Deutschland hat die zwölfthöchste Impfquote unter den verglichenen 35 Ländern, sollte demnach ungefähr die zwölftniedrigste Inzidenz haben. Der Statistik zufolge ist es aber die neunthöchste! Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass es weitere wichtige Faktoren gibt. Die Statistik enttäuscht uns mit einer Punktefolge, die entgegen der Erwartungen von links unten nach rechts oben zu gehen scheint. Selbst das Land mit der höchsten Impfquote im Vergleich (Portugal mit 90%) hat eine höhere Inzidenz als Deutschland. Das gilt für weitere 4 Länder: Großbritannien, Frankreich, Spanien und Italien.
Im internationalen Vergleich sieht die deutsche Inzidenz nicht dramatisch aus, sogar 44% niedriger als in Spanien, in dem 81% der Bevölkerung vollständig geimpft sind. Nur der Ausreißer Großbritannien ist mit einer maßgeblichen Ausbreitung der Omicron-Variante zu erklären (Stand 23.12.2021), aber auch nur unter der Annahme, dass die bislang verimpften Stoffe einen unzureichenden Schutz gegen Omicron bieten.
Für die leichtere Nachprüfbarkeit wurden die Bezeichnungen der Datenquelle übernommen und nicht übersetzt.
Neue Todesfälle
Die Zahl der Covid-Todesfälle (letzte sieben Tage vor dem 23.12.2021) sehen die Zahlen für Deutschland im internationalen Vergleich dramatisch aus. Nach Russland, das mit Abstand einen traurigen Rekord hält, kommt Deutschland auf Platz 2 und übertrifft die Mehrheit der anderen Länder um das Doppelte.
Reproduktionsrate
Wenn sich schon keine Schadensreduktion feststellen lässt, sollte das „Durchimpfen“ doch wenigstens zu einer Senkung der Reproduktionsraten der Erkrankung führen (R-Wert). Wer geimpft ist, sollte eine geringere Infektionsgefahr haben, auf Basis dieser Annahme genießt der geimpfte Bevölkerungsteil viel größere Freiheiten als der Ungeimpfte. Auch hier sollten die Punkte „von links oben nach rechts unten“ gehen:
Nun, das ist nicht der Fall. In allen Ländern mit einer höheren Impfquote als Deutschland ist die Reproduktionsrate höher und durchweg über 1! Wenn hohe Impfquoten der wesentliche Faktor zur Reduktion der Reproduktionsrate sind, kann das nicht sein. Vielleicht ergibt sich dieses Bild zufällig anhand der Länderauswahl? Hier eine Gegenprobe mit sämtlichen europäischen Staaten:
Fazit
Aus den Auswertungen lassen sich unterschiedlichste mögliche Schlussfolgerungen ableiten. Viele davon widersprechen Erwartungen und Intuition, alle sind durch weitergehende Untersuchungen zu prüfen.
Unmittelbar drängen sich mir im Ländervergleich folgende Schlussfolgerungen, Vermutungen und Fragen auf:
Die eingangs beschriebene Erwartung einer Verbesserung der Lage durch hohe Impfquoten wird seltsamerweise nicht erfüllt.
Die einzigen Messpunkte, die die Annahme bestätigen, dass eine wesentlich niedrigere Impfquote als Deutschland wesentlich schlechtere Covid-Gesundheitsdaten zu Folge hat, sind die Todeszahlen in Russland und die Reproduktionsraten in Äthiopien, Nigeria und Kenia. Das sind 4 von 105 Messpunkten, also eine Quote, die man legitim als statistische Ausreißer einstufen kann.
Der größte Teil der verglichenen Länder hat schlechtere Impfquoten als Deutschland aber eine bessere Covid-Gesundheitslage.
Deutschland und Österreich gehören derzeit –auch ohne Impfpflicht– zu den Ländern mit der geringsten Reproduktionsrate. Sehr gut!
Steigt die Impfquote über 30%, geht eine höhere Impfquote Hand in Hand mit einer höheren Reproduktionsrate. Auch das widerspricht den Erwartungen. Unter der Annahme, dass die Impfungen auch für die neuen Varianten einen ausreichenden Schutz bieten, stellt sich die Frage, was bei steigender Impfquote die erhöhte Schutzwirkung zunichte macht. Z.B. sinkende kollektive Vorsicht?
Darüber hinaus liegt die Reproduktionsrate aller verglichenen Länder mit höherer Impfquote als Deutschland über 1 (außer Belgien und Österreich). Das heißt, in diesen Ländern steigt die Zahl der Fälle trotz hoher Impfquote. Das widerspricht den Erwartungen und ist besonders unverhältnismäßig in den Ländern mit Impfquoten über 80%: Portugal, Malta, Spanien und Island.
Portugal hat mit Abstand die höchste Impfquote. Die Anzahl der Neuinfektionen ist dennoch die sechsthöchste unter 35 Ländern, die Zahl der Toten die neunthöchste. Das widerspricht den Erwartungen.
Deutschland hat trotz guten Gesundheitssystems die zweithöchste Quote an Covid-Toten. Sowohl Länder mit höherer als auch Länder mit niedrigerer Impfquote haben eine geringere Covid-Sterblichkeit. Die Zahlen legen nahe, dass in Deutschland etwas schief läuft, aber nicht, dass es die Impfquote ist. Wird hierzulande immer noch nicht unterschieden, ob man mit oder an Covid stirbt?
Schweiz und Liechtenstein sind die Länder, die Deutschland und Österreich am ähnlichsten sind in Kultur, Gesundheitssystem, Genom, Altersstruktur und Lebensumständen. Beide melden trotz höherer Fallzahlen deutlich weniger Todesfälle. Für die Schwere der Infektionsverläufe scheint es einen wichtigeren Faktor zu geben als Impfquote und Fallzahl.
Viele Entwicklungsländer scheinen trotz geringerer Mittel im Gesundheitswesen und niedriger Impfquote glimpflicher durch die Corona-Krise zu kommen als Deutschland. Was machen sie anders?
Vielleicht können Deutschland und Österreich etwas von anderen Ländern lernen? Das erscheint mir hilfreicher als die in den letzten Monaten verfolgte Politik.
Nachvollziehbarkeit
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, daher beschreibe ich in einem gesonderten Artikel Schritt für Schritt, wie jede/r den aktuellen Stand dieser Daten selbst abrufen, auswerten und diese Untersuchungen nachvollziehen kann. Sollte mir ein Fehler in der Datenanalyse unterlaufen sein, freue ich mich über qualifizierte Rückmeldung und werde den Artikel entsprechend anpassen.
Datenquelle
Die Datenquelle ist die Webseite „Our World in Data“, die statistische Daten weltweit zu verschiedenen Themen sammelt, visualisiert und täglich aktualisiert, so auch zu Corona: https://ourworldindata.org/coronavirus. Sie ist an der Oxford Martin School angesiedelt, die zur sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Oxford gehört und wird regelmäßig zitiert in Fachzeitschriften wie Science und Nature, sowie anerkannten Medien wie BBC, die Washington Post, die New York Times und The Economist. Ihre Daten stellt sie kostenfrei ohne Zugriffsschranken auf Github zum Download bereit (https://github.com/owid/covid-19-data/tree/master/public/data), und jede/r Interessierte kann diese in Tabellenkalkulationen und Analysesoftware importieren.
Obige Auswertung fand auf Basis der Datei 'owid-covid-latest.csv' statt. Diese ist in der jeweils tagesaktuellen Version verfügbar über den Link https://raw.githubusercontent.com/owid/covid-19-data/master/public/data/latest/owid-covid-latest.csv und jeder Leser ist ausdrücklich aufgefordert, meine Ergebnisse nicht unhinterfragt anzunehmen, sondern die Daten selbst zu prüfen und zu einer objektiven und konstruktiven Diskussion beizutragen.
Der einzige subjektive Faktor dieses Vergleichs besteht in der Länderauswahl. Ein Südseeinselstaat ist nicht unbedingt vergleichbar mit einem europäischen industrialisierten Flächenstaat. Allerdings ist es auch sinnvoll, die Auswahl nicht zu extrem einzuschränken, um nicht von Zufallseffekten in die Irre geführt zu werden (Gesetz der großen Zahl).
Daher habe ich folgende 35 Länder ausgewählt:
Die 30 bevölkerungsreichsten Länder (ohne Myanmar und Tansania, von denen im Datensatz keine Impfquote vorliegt)
plus Nordamerika
plus deutschsprachige Länder
plus Flächenstaaten mit markanten Sondersituationen: Australien, Israel, Schweden, Vietnam und Portugal
Zur Vergleichbarkeit habe ich die Zahlenwerte verwendet, die „Our World in Data“ auf die Gesamtbevölkerung des Landes normiert hat, in der Regel Fälle pro 1 Million Einwohner, und mit dem Durchschnittswert der letzten sieben Tage.
Zu meiner Person
Die öffentliche Erörterung der Problemlage ist kontrovers und aus Sicherheitsgründen möchte ich anonym bleiben.
Bleiben Sie gesund,
Leonard Frey
(Pseudonym)