Um zu betrachten, wie “schlimm” Omikron ist, ist entscheidend, was das bedeutet. Begriffe wie “gut”, “schlecht” und “schlimm” stellen immer eine Wertung dar und beruhen, je nach Blickwinkel, auf sehr unterschiedlichen Faktoren.
Was Epidemien angeht, kann man viele Kriterien definieren, um die Bedrohungslage einer Situation zu messen, z.B.
Sterberisiko für einen Infizierten
Sterberisiko für die Gesamtbevölkerung
Ausfallrisiko der Krankenversorgung
Volkswirtschaftliche Schäden durch Kranke, Tote und Eingesperrte
und vieles mehr
Was uns als Betroffene primär interessiert, ist eine dauerhafte Bedrohung unserer Gesundheit oder gar unseres Lebens, sekundär die Gefahr, dass wir im Falle anderer Geschehnisse wie Unfällen, wegen Überlastung des Gesundheitssystems nicht medizinisch versorgt werden können. Todesfälle sind die Metriken, die weltweit am klarsten und einheitlichsten sind und daher werde ich mich in dieser Analyse darauf konzentrieren.
Omikron ist noch jung und die Datenlage sehr dünn, daher ist es notwendig, so viele Indizien wie möglich zu betrachten und zu vergleichen.
Länderbetrachtung
Was Omikron angeht, sind uns andere Länder voraus und wir können anhand der dortigen Verhältnisse Rückschlüsse für Deutschland ziehen. Our World in Data zeigt Omikron-Statistiken auf der Seite Share of SARS-CoV-2 sequences that are the omicron variant, Sep 20, 2021 to Jan 3, 2022:
Im Tab Download lassen sich die Daten herunterladen und untersuchen. Beschränkt man sich auf die Länder, in denen die Omikron-Variante zum letzten Meldedatum die Mehrheit der Covid-Erkrankungen ausmacht, entsteht folgende Liste:
Statistiken dieser Länder sollten uns einen Eindruck über die Gefahrenlage geben.
Omikron vs. Vorgänger
Die Fallsterblichkeit (oder im Fachjahrgong Fall-Verstorbenen-Anteil) bezeichnet die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Infizierter stirbt.
Um einen Schnappschuss der aktuellen Fallsterblichkeiten zu erhalten, reichern wir obige Daten an mit dem letzten Stand der neuesten Zusammenfasung der Covid-Daten von Our World in Data auf Github (für die, die es nachvollziehen möchten: die Spalten new_cases_smoothed_per_million und new_deaths_smoothed_per_million). Für Jordanien liegen keine Daten vor, daher wird es aus der Liste gestrichen. Die Berechnung des Bruchs Todesfälle/Fallzahl mit diesen Zahlen und die Auftragung über die Omikron-Quote liefert uns eine grobe Schätzung für die aktuelle Fallsterblichkeit (Spalte mortality):
In einem Diagramm betrachten wir nun die Fallsterblichkeit in Abhängigkeit von der Omikron-Quote. Dazu tragen wir in einem Koordinatensystem den Anteil der Omikron-Infizierten waagerecht und die Fallsterblichkeit senkrecht auf.
Schon der erste Eindruck gibt uns ein Indiz, dass die Fallsterblichkeit in den Ländern niedriger ist, in denen Omikron die dominierende Variante ist, Omikron für den Infizierten also weniger tödlich ist als die anderen Varianten.
Südafrikanische Hospitalstudie
Statistiken aus einem großen Hospital in Tswane, Südafrika bestätigen das:
In diesem Bericht ist die Fallsterblichkeit um 78% und die Anzahl der Intensivstationseinweisungen mit Covid-Fällen um 80% niedriger als im früheren Vergleichszeitraum, vor Omikron.
Präzedenzfall Großbritannien
Gehen wir nun mehr ins Detail und betrachten das europäische Land, das die höchste Quote an Omikron-Infizierten hat und dessen Gesundheits-, Lebens- und Arbeitsumstände am ehesten mit Deutschland vergleichbar sind: Großbritannien. Dazu verwende ich die weltweite Gesamthistorie der Corona-Daten, die Our World in Data auf Github bereitstellt:
Der Knick nach unten, der ganz rechts im Diagramm zu sehen ist, ist die abklingende Deltawelle, der neue Anstieg geht auf Omikron zurück. Links des Knicks sind im Wesentlichen Delta-Fälle zu sehen, rechts davon Omikron. In der britischen Omikron-Welle liegt die Zahl der Todesfälle noch unter der Höchstmarke der Deltawelle, die Anfang Oktober aufgestellt wurde. Wahrscheinlich ist es nur eine Frage von Tagen, bis diese Marke wieder überschritten wird, doch entscheidend ist, dass die Fallzahlen schon mehr als viermal so hoch sind. Als grobe Abschätzung können wir vermuten, dass Omikrons Fallsterblichkeit 75% niedriger ist als die von Delta.
Wellenvergleich
Wir wollen sicherer gehen, indem wir nicht nur obige Momentaufnahmen vergleichen, sondern alle Covid-Fälle und -Tote pro Welle zählen, um Alpha, Delta und Omikron zu vergleichen. Hierzu ordnen wir für eine grobe Abschätzung alle Fälle eines Zeitraums der gleichen Welle und Variante zu.
Zeitraum Welle Variante Fälle Tote Fallsterblichkeit
03.12.20–11.04.21 3. Welle Alpha 2.698.234 67.012 2,48%
11.04.21–02.12.21 4. Welle Delta 5.973.904 18.212 0,30%
02.12.21–heute 5. Welle Omikron 2.915.178 3.579 0,12%
Eine ähnliche Untersuchung der Zahlen für der anderen Länder führt zu folgenden Zahlen:
Fallsterblichkeiten:
Variante Großbritannien Frankreich Malta
Alpha 2,48% 1,60% 1,40%
Delta 0,30% 0,38% 0,51%
Omikron 0,12% 0,14% 0,06%
Wie beschrieben, sind das nur grobe Schätzungen unter der Annahme, dass alle Meldungen Tod durch Omikron bedeuten und nicht mit Omikron. Auch sie indizieren, dass Omikrons Fallsterblichkeit ca. 70% geringer ist als die von Delta.
Der neueste RKI-Wochenbericht (vom 30.12.2021), führt in Deutschland 4 Todesfälle unter 6.788 Omikron-Fällen auf, was eine Fallsterblichkeit der Omikron-Infizierten in Deutschland von 0,06% ergibt. Die geringe Zahl von nur 4 Todesfällen führt aber zu einer enormen statistischen Unsicherheit, dass sie nur eine erste Idee liefern kann, aber keine belastbare Zahl.
Die Fallzahlen steigen unter Omikron schnell an und wir müssen berücksichtigen, dass Todesfälle mit Zeitverzögerung auftreten, die wirkliche Fallsterblichkeit also deutlich höher ist als unsere Grobschätzungen. Als einziges Land, das seit über zwei Wochen von Omikron dominiert wird, liefert uns Südafrika eine Orientierung mit einer Fallsterblichkeit von 0,32%.
Daher gehe ich davon aus, dass in Deutschland ein Omikron-Infizierter ein Sterberisiko von nur 0,2-0,3% hat. In anderen Worten: Von Tausend Omikron-Infizierten würden nur 2-3 sterben.
Bedrohung für die Gesellschaft
Für den Einzelnen stellen obige Untersuchungen eine Art von Entwarnung dar gegenüber Omikron. Betrachtet man die Gesamtheit der Bevölkerung und die politische Entscheidungsfindung, werden weitere Faktoren wichtig:
die hohe Infektiösität
der Grad an Immunität in der Bevölkerung
Die hohe Infektiösität äußert sich mit einer Verdoppelung der Fallzahlen jede Woche, so dass wir nach heutigem Wissensstand von 20% Omikron-Anteil an Covid-Infektionen in Deutschland ausgehen können und Anfang Februar über 90%.
Wie stark die Immunität gegen Omikron in der Bevölkerung ist, lässt sich mit der aktuellen Datenlage nicht sagen. Ich habe keine Studie gefunden, die eine wesentliche Wirksamkeit des Impfschutzes gegen Omikron mit oder ohne Booster belegt und über Vermutungen hinausgeht. Hingegen gibt es Studien, die nahelegen, dass der Schutz, den Genesene und Geimpfte vor Omikron haben, vernachlässigbar ist (hier eine medizinische Untersuchung aus Deutschland, eine statistische Untersuchung aus Dänemark und eine meiner eigenen statistischen Auswertungen). Wie groß der Bevölkerungsanteil ist, der z.B. durch symptomlose Infektion gegenüber Covid im Allgemeinen oder Omikron im Speziellen immun ist, ist bislang nicht Bestandteil irgendeiner politischen Erwägung oder gar repräsentativen Erfassung gewesen. Im Gegenteil z.B. wurden Bluttests auf diverse Antikörper eher behindert als gefördert.
Vermutlich werden wir eine wöchentliche Verdoppelung der Omikron-Fallzahlen, wie sie in anderen Ländern beobachtet wurde, nicht verhindern können, und es ist möglich, dass wir schon Ende Januar 2022 die Marke von 100.000 Neuinfektionen pro Tag übersteigen und einen entsprechenden Krankenstand konfrontieren.
Trotz einer “Entwarnung” für den Einzelnen können wir daher Aktionismus in unserer politischen Führung beobachten. Eine der Ursachen ist, dass die Erfassung von Fällen, Verläufen, und der Wirksamkeit verschiedener Maßnahmen bislang statistische Qualitsänforderungen nicht ausreichend erfüllt hat. Die nötigen Mittel sind Daten- und Statistikexperten bekannt, und das Rad braucht nicht neu erfunden zu werden. Derzeit können wir nicht einmal mit Sicherheit sagen, wie der Impfstatus aller Covidpatienten in Krankenhäusern ist oder zumindest nach welchen Kriterien ein bestimmtes Krankenhaus einen Patienten wie einstuft.
Anstelle von Impfzwangsmaßnahmen sollten wir erst einmal eine konsistente und saubere Erfassung der Infektionslage und der Krankheitsverläufe haben, um mit klarem Verständnis effektive Maßnahmen ergreifen und deren Wirkung abschätzen zu können. Das wäre schon vor anderthalb Jahren fällig gewesen.
Ich finde, es wird Zeit, aus einem Denken auszubrechen, in dem Durchimpfen und Wegsperren als die einzigen Alternativen erwogen werden. Vermutlich werden wir die rasante Entwicklung des Infektionsgeschehens bestenfalls abmildern, aber nicht verhindern können. Es kommt eine neue Probe auf uns zu und wir müssen im Kleinen wie im Großen zusammenhalten, um sie zu meistern, denn es ist die Gemeinschaft, die uns stark macht.
So lobe ich mir Ansätze wie eine Initiative in Sachsen, auf die sich 600 Freiwillige gemeldet haben, um Klinikpersonal zu entlasten: Ärzte- und Pflegepool Sachsen. Das ist eine von vielen Möglichkeiten, wahre Solidarität zu üben, und die uns hilft, Krisen zu überstehen und an ihnen zu wachsen, statt uns zu entzweien.
Fazit
Unterschiedliche Auswertungen und Berichte legen nahe, dass Omikron 50-75% weniger schwere oder gar tödliche Verläufe bringt als Delta. Eine erste Schätzung der absoluten Fallsterblichkeit ist 0,2-0,3%. Die Annahme ist berechtigt, dass Omikron für den Einzelnen deutlich weniger “schlimm” ist als Alpha oder Delta.
Vermutlich haben wir der Omikronwelle wenig entgegenzusetzen. Daher wird es für die Gemeinschaft einige Wochen mit enormem Krankenstand und sich daraus ergebenden Versorgungsengpässen geben, aber auch das werden wir schaffen, indem wir Solidarität in ihrer klassischen Form praktizieren: Persönlich und mit Taten.
Am Ende kann es sein, dass Omikron uns alle zu Ungeimpften macht und wir alle wieder im selben Boot sitzen. Dass uns die Natur im Eilverfahren eine tatsächliche Herdenimmunität aufzwingt, einen Schlussstrich unter den kollektiven und weltweisen Wahnsinn der letzten zwei Jahre zieht und wir uns im kommenden Sommer wieder mit anderen Themen als Corona-Angst beschäftigen können. Zum Beispiel, wie wir die Gräben wieder schließen, die sich zwischen uns, unseren (ehemaligen) Freunden, Familien, Kollegen und Nachbarn aufgetan haben.
Bleiben Sie gesund,
Leonard Frey
(Pseudonym)